Innovation
| Robert Daubner |
01 November 2022
Es gibt heute wahrscheinlich kaum noch etwas, das man nicht online kaufen kann: Kleidung, Bücher oder Elektronik lassen sich genauso wie Lebensmittel, Medikamente und sogar Autos bis an die Haustür liefern. E-Commerce-Unternehmen – ob im B2B-, B2C- oder D2C-Bereich – müssen bei dieser Entwicklung zwei Faktoren im Blick haben, wenn sie auf Dauer wettbewerbsfähig bleiben wollen.
Zum einen steigt die Bedeutung von Online-Shops und -Erlebnissen kontinuierlich an. Zum anderen reichen bereits heute rudimentäre Online-Shops nicht mehr aus, um die Kundenerwartungen zu erfüllen. Verbraucher wollen eine möglichst einfache, intuitive und jederzeit reibungslose Online-Shopping-Erfahrung. Das heißt: Seiten sollen sofort laden und insbesondere für mobile Browser optimiert sein – eine eigene App wäre noch besser –, die Suchfunktion soll sinnvolle Ergebnisse liefern und es sollen möglichst viele Zahlungsoptionen angeboten werden. Die Toleranz der Kunden für ungenügende Erfahrungen ist gering – im schlimmsten Fall sind sie so enttäuscht, dass sie zu Wettbewerbern abwandern.
Das heißt für Unternehmen, dass sie ihr E-Commerce-Angebot und vor allem die Customer Experience priorisieren müssen. Entscheidend dabei: die richtige Software-Architektur. Noch immer bauen viele Unternehmen auf ein komplett monolithisches E-Commerce-System, bei dem es sich zudem häufig um eine Eigenentwicklung handelt. Darin werden eine ganze Reihe von Funktionen in einer gemeinsamen Codebasis vereint, zum Beispiel der Shop selbst, ein Product-Information-Management-System (PIM), ein Content-Management-System (CMS) und ein Data-Asset-Management-System (DAM), und in einem Prozess ausgeführt.
Trotz Vorteilen wie einer geringen Komplexität beim Zusammenspiel der einzelnen Komponenten und einer niedrigen Latenzzeit ist eine rein monolithische Architektur inzwischen nicht mehr zeitgemäß. So braucht die Entwicklung und Implementierung neuer Features, zum Beispiel eines Konfigurators für die Personalisierung von Produkten, in dieser Architektur oft Monate, denn die Codebasis muss verändert und das gesamte System aktualisiert werden.
Eine State-of-the-Art-User-Experience lässt sich so nicht erreichen: Sobald eine neue Funktion tatsächlich umgesetzt wurde, ist sie fast schon wieder veraltet. Auch können Unternehmen beim Design nicht einfach Neues ausprobieren, um zu sehen, wie Veränderungen bei den Kunden ankommen. Das wäre allerdings wichtig, um das User Interface kontinuierlich zu verbessern. Zudem ist bei Problemen mit der Software häufig das gesamte System betroffen und fällt aus. Für Unternehmen wie auch Kunden ein großes Ärgernis.
GESCHWINDIGKEIT IST DER ENTSCHEIDENDE FAKTOR
Deshalb sollten Unternehmen für ihre E-Commerce-Anwendungen lieber auf eine modernere Architektur setzen: Microservices. Die vielen kleinen Dienste, die jeweils nur für eine einzige Aufgabe verantwortlich sind, sind in der Software-Entwicklung schon länger Trend. Im Falle eines Online-Shops kann eine solche Aufgabe zum Beispiel die Produktsuche oder der Warenkorb sein. Das Ziel ist dabei, dass die Microservices ihre Aufgaben perfekt ausführen – und mit größtmöglicher Flexibilität neue Funktionen, Channels oder Technologien ergänzt werden können. Dadurch können Unternehmen ihr User Interface schneller an die Erwartungen und Anforderungen der Kunden anpassen.
Aber ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint, funktioniert es in der Realität dann oft doch nicht. Schließlich werden sich die meisten Unternehmen nicht dazu entscheiden, einen komplett neuen Online-Shop nur mithilfe von Microservices aufzubauen – das ist auch nicht unbedingt notwendig. Stattdessen werden sie ihr im Laufe der Zeit organisch gewachsenes System mithilfe von Microservices weiterentwickeln und stellenweise ersetzen. Schon dieser Vorgang ist äußerst zeitaufwendig und kann Monate bis Jahre in Anspruch nehmen. Der erste Schritt, den Unternehmen in diesem Prozess machen müssen: ein gründlicher Audit. Was ist ihre Business-Strategie für den Online-Shop, welche Legacy-Systeme sind bereits im Einsatz und wie kommunizieren diese miteinander, welche Funktionen sollen Microservices übernehmen? Je größer die Systemlandschaft, desto schwieriger ist der Schritt, eine Gesamtübersicht zu bekommen.
Zudem müssen Unternehmen in der Umsetzung auch beachten, dass im E-Commerce je nach Bereich drei Geschwindigkeiten aufeinandertreffen: Im Frontend muss alles sehr schnell gehen, Echtzeit- und historische Daten müssen zusammengeführt werden, um den Kunden die bestmögliche Erfahrung zu bieten. Da können schon individuelle Produktempfehlungen, die allerdings in der Größe, die der Kunde zuletzt geordert hatte, gar nicht mehr vorrätig sind, zu Verstimmungen führen. Im Hintergrund arbeiten die Fulfillment-Systeme wie Enterprise-Resource-Planning- (ERP) oder Logistik-Lösungen dagegen relativ langsam. Dazwischen befinden sich Systeme, beispielsweise für das Payment, deren Arbeitsgeschwindigkeit im Mittelfeld liegt.
Bei diesem E-Commerce der drei Geschwindigkeiten liegt die Herausforderung für Unternehmen darin, die Legacy-Lösungen, die möglicherweise selbst zu unterschiedlichen Zeiten dem System hinzugefügt wurden, und die neuen Microservices so zu verbinden, dass sie einwandfrei miteinander kommunizieren und weiterhin in ihrer jeweils notwendigen Geschwindigkeit funktionieren können.
EIN KOPFLOSER ANSATZ FÜR DEN E-COMMERCE
„Headless“ ist derzeit eines der Schlagwörter schlechthin im Zusammenhang mit Microservices und E-Commerce. Gemeint ist, dass – im Gegensatz zu traditionellen Shop- und Content-Management-Systemen – Frontend und Backend komplett voneinander getrennt sind. Zudem arbeiten sämtliche Frontend-Komponenten in Form von Microservices unabhängig voneinander und sind nur über API miteinander verbunden. Dadurch können Unternehmen die Technologien wählen, die für die jeweilige Aufgabe am besten geeignet sind, und sie ganz nach Bedarf und unabhängig vom Backend skalieren. Die Time-to-Market ist dabei gering, sodass Unternehmen flexibel und schnell auf sich verändernde Kundenerwartungen reagieren können.
Ein großer Vorteil von Headless-Systemen: Unternehmen können verschiedene Frontends mit demselben Backend verbinden. Wer beispielsweise in verschiedenen Ländern einen Online-Shop anbieten will, braucht dafür nicht jedes Mal einen eigenen Shop in der jeweiligen Landessprache aufzusetzen, sondern muss lediglich ein neues Frontend entwickeln oder entwickeln lassen, das auch spezifisch auf die jeweilige Zielgruppe oder den jeweiligen Kulturkreis zugeschnitten sein kann. Diesen Aufwand eines individuellen Frontends sollten E-Commerce-Anbieter auch auf sich nehmen. Zwar gibt es hier durchaus einige Standardlösungen, die sind aber in der Regel für die Bedürfnisse der Unternehmen und ihrer Kunden nicht ausreichend. Ein One-Size-Fits-All-Ansatz ist hier nicht der richtige Weg.
Stattdessen brauchen Unternehmen eine leistungsstarke Lösung, die beispielsweise auch SEO- und Analytics-Tools integrieren kann. Denn: Die meisten Kunden finden den Weg in den Online-Shop noch immer in erster Linie über Suchmaschinen. Und auch A/B-Tests können so erst sinnvoll funktionieren. Unternehmen können dadurch nicht nur mit verschiedenen Designs, neuen Funktionen, Touchpoints und mehr experimentieren, um die User Experience im Online-Shop kontinuierlich anzupassen und zu verbessern, sondern dabei auch genau nachverfolgen, was ihre Kunden in welcher Weise anspricht und was etwa die Verweildauer oder die Kaufentscheidung beeinflusst.
Gerade die Google-Analytics-Integration kann gut und gerne ein halbes Jahr in Anspruch nehmen – an deren Ende Google möglicherweise bereits wieder Änderungen vorgenommen hat, die der E-Commerce-Anbieter erneut anpassen muss. Allerdings verfügt er jetzt über eine Plattform, bei der das einfacher geht als zuvor. Gerade im Hinblick auf die Diskussionen ums Tracking und die Frage, was nach den Cookies kommt, ist es für Unternehmen auch wichtig, ihre Systeme heute schon für die Zukunft zu optimieren, um etwaige Veränderungen schnell umzusetzen und weiterhin eine vernünftige Lead-Generierung zu gewährleisten.
Natürlich sind mit dem Einsatz von Microservices aber auch immer einige Herausforderungen verbunden, derer sich Unternehmen im Vorfeld bewusst sein sollten. Weil Microservices erst Informationen aus Datenbanken anderer Microservices anfordern müssen, sind die Latenzzeiten oft höher. Auch diese kurzen Verzögerungen können Kunden negativ auffallen. Sogenanntes Caching kann Abhilfe schaffen, indem das Ergebnis einer Anfrage gespeichert und immer wieder verwendet wird.
Bei einer dezentralen Struktur mit mehreren Datenbanken, die womöglich mit unterschiedlichen Technologien verwaltet werden, kann es zudem schnell zu Inkonsistenzen bei den Daten kommen. Datenkonsistenz ist jedoch essenziell, um Transaktionen korrekt und vollständig auszuführen. Eine Lösung: Microservices melden ein Event, wenn sie ihre Daten in irgendeiner Form ändern, woraufhin auch von ihnen abhängige Dienste ihre Daten aktualisieren.
Das Monitoring eines verteilten Microservices-Systems ist aufgrund seiner Komplexität ebenfalls eine Herausforderung. Denn neben den Microservices muss auch ihr Zusammenspiel mit anderen Diensten kontinuierlich überwacht werden, um die Ursachen von Fehlern und Leistungsabfällen schnellstmöglich zu erkennen. Hier hilft ein engmaschiges Echtzeit-Monitoring.
FAZIT
Der Online-Handel boomt – das wissen wir nicht nur aus unserem Privatleben, auch die Zahlen belegen es: Laut dem Branchenverband BEVH ist der Umsatz im letzten Jahr auf über 100 Milliarden Euro angewachsen. Die Deutschen geben inzwischen fast jeden siebten Euro, der ihnen für Haushaltsausgaben zur Verfügung steht, online für Waren aus. Dazu kommt: Das Potenzial neuer Technologien und Konzepte wie Metaverse, Blockchain, Augmented oder Virtual Reality steckt zwar noch im Anfangsstadium. Sie könnten aber schon in einigen Jahren die Art und Weise, wie wir mit Marken interagieren, grundlegend verändern und noch stärker in den digitalen Raum verlagern.
Bereits heute ist ein intuitiver, übersichtlicher und jederzeit verfügbarer Online-Shop entscheidend, um Kunden zu begeistern und langfristig an sich zu binden. Schließlich stehen ihnen heute mehr Alternativen denn je zur Verfügung. Mit einer Headless-Microservices-Architektur können Unternehmen ihren Online-Shop ganz nach ihren und den Bedürfnissen ihrer Kunden aufbauen, flexibel um neue Funktionen erweitern und schnell auf neue Entwicklungen reagieren. Gerade eine solche Architektur bietet Unternehmen die Möglichkeit, eine User Experience zu schaffen, die ganz den Erwartungen an eine moderne Online-Erfahrung entspricht, einschließlich eines User Interfaces, das im Sinne einer Continuous Delivery kontinuierlich verändert und optimiert wird.
Solange E-Commerce-Anbieter dabei von Anfang an mögliche Stolpersteine im Blick haben und entsprechende Lösungen suchen, steht einer modernen und flexiblen Customer Experience beim Online-Shopping nichts im Weg.
Dieser Artikel wurde unter anderem Titel und leicht verändert zuerst veröffentlicht in t3n Magazin Nr. 69.
Robert Daubner
E-COMMERCE EVANGELIST
Robert ist ein passionierter digitaler Entdecker und Innovationsfan. Seit über 20 Jahren befasst er sich mit digitalen Geschäftsmodellen aus allen Bereichen des Handels und der Industrie, um diese stetig zu verbessern und so Wachstum für seine Kunden zu generieren. Nach ersten Innovationen im Retail-Banking leitete er als CEO mehrere Unternehmen, Joint Ventures und Public-Private Partnerships im B2C- und B2G-Geschäft. Als Berater half er bei der digitalen Transformation internationaler börsennotierter und mittelständischer Unternehmen im B2B-Bereich. Das Digital Customer Experience Management, wie wir es heute kennen, wurde in den letzten Jahren im Wesentlichen von Robert geprägt. Das Ergründen von Kundenwünschen und wie diese im Post-Covid-E-Commerce nachhaltig bedient werden können ist derzeit seine größte Passion. Abseits des beruflichen Alltags entdeckt Robert gern Europa mit einem schönen alten VW Bus und fährt mit dem Rad gern die Berge rauf und runter.ALLE KATEGORIEN
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